Portrait von Robert Kratky

© Philipp Lipiarski © Philipp Lipiarski

„Der Tod hat mich immer nur ans Leben erinnert”

Ein Leitgedanke in der Hospizarbeit nach Cicely Saunders ist: „Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage, sondern den Tagen mehr Leben zu geben“. Was bedeutet für Sie Lebensqualität?

Das Leben selber zu genießen, und zwar soweit es irgendwie geht, sich nichts zu versagen, nichts auf später zu verschieben, aber natürlich das Ganze in einem klugen Abwägen der Leistbarkeiten und der Möglichkeiten, ist für mich ein grundsätzliches, sinnstiftendes Lebenskonzept. Ich muss dazu sagen, ich habe meinen Vater schon sehr früh verloren und habe schon sehr früh begonnen, über solche Dinge, wie den Tod und das Sterben, nachzudenken. Daher sind solche Gedanken für mich weder erschreckend noch überraschend. Ich habe sogar Dinge, die für den Fall meines Ablebens notwendig sind, bei mir komplett vorbereitet in einer Schublade. Bis hin zur Todesanzeige ist alles fertig. Für mich war es immer ein tröstlicher Gedanke zu wissen, wie es endet. Zumindest, soweit es in meiner Hand liegt. Der Tod hat mich immer nur ans Leben erinnert und daran, wie wichtig es ist, es zu nutzen.

Haben Sie Angst vor dem Altern oder dem Sterben?

Ich habe Angst vor Schmerzen und vor Demenz. Ich habe das bei der Großmutter meiner Exfreundin miterlebt, die ich immer wieder mal besucht habe. Wie es ist, wenn alles verloren geht, was eigentlich sinnstiftend hätte sein sollen. Wie bei einer Perlenkette, die man irgendwann mal in seinen Händen hält, und mit jeder Perle blickt man zurück, um sich daran zu erfreuen. Wenn diese Kette plötzlich reißt und die Perlen verschwinden in den Ritzen und Löchern des Fußbodens - furchtbar, also das sind Dinge, vor denen hab ich tatsächlich Angst. Vor dem Tod selber oder davor, dass mein Leben endet, nicht die Bohne.

Haben Sie Wünsche an den letzten Lebensabschnitt, sofern man diesen bewusst mitgestalten kann?

Aus heutiger Perspektive würde ich gerne alleine sterben, weil ich tatsächlich glaube, dass es besser zu mir passt. Das ist eine Überlegung, die, glaub ich auch, tatsächlich halten wird. Ich halte den Tod nicht für etwas, das noch Jahrzehnte weg ist, sondern ich habe mich immer so damit beschäftigt, als könne es morgen passieren. Aber jeder Mensch sollte individuell das Recht haben zu entscheiden. Deswegen halte ich Betreuung für etwas Wertvolles und die Menschen, die dafür sorgen, für bewundernswert. Außerdem möchte ich an einem Ort mit Ausblick sterben, ich möchte etwas sehen. Das man dabei im Freien sein kann und vielleicht ein Stück Himmel sieht, Berge oder Wasser. Das ist meine Grundvorstellung davon, wie das Sterben auszusehen hat. Ich überlege auch sehr oft, was wäre der letzte Song, den ich mir noch anhören würde: Die Neunte von Beethoven. Es muss Klassik sein, weil ein Orchester nun mal eine weitaus höhere und intensivere Dimension im Kopf und im Herzen schafft, als jede andere Art von Musik. Und ganz, ganz wichtig: Die Neunte hat keinen rechten Schluss. Das Unangenehme bei der Neunten, wenn man sie zu Lebzeiten hört, ist, sie schließt nicht ab. Es rinnt hinten so ein bisschen aus, und geht noch minutenlang dahin, ohne echtes Highlight. Nachdem ich mir den Tod immer vorstelle, als ein langsames Entschwinden, wäre das ein ideales Stück Musik.

Es gibt ein Buch der Palliativpflegerin Bronnie Ware „5 Dinge, die Sterbende am Meisten bereuen“, kennen Sie dieses Buch?

Ich kenne es nicht im Detail, aber ich weiß „mehr Zeit für Familie, weniger Arbeiten, etc. etc“. Ich betrachte es eher kritisch, denn für mich hat Arbeit immer einen enormen Teil meines Lebens ausgemacht. Ich bin sehr pflichtversessen und ich halte es für ein sehr wichtiges Lebensprinzip, mich meiner Arbeit zu widmen. Ich werde es niemals bereuen. Diese Arbeit hat mir mein Leben ermöglicht, so, wie ich es leben wollte und hat mir meine Träume erfüllt. Ich glaube aber, dass es für das Leben und für
das Ableben wichtig ist, dass man beides bewusst tut und sich für beide Fälle einen Plan zurecht gelegt hat. Ich glaube, es ist wichtig, sich mit dem Tod auseinander zu setzen, weil er zum Leben dazu gehört und das Leben erst lebenswert macht. Aber man sollte das Leben auch tatsächlich lebenswert gestalten, sei es mitkleinen oder großen Dingen. Das Leben ist wertvoll, das ist für mich die einzige Botschaft, die der Tod hinterlässt.

Man hat den Eindruck, dass Sie ein sehr intensives und bewusstes Leben führen, aber gibt es dennoch offene Wünsche für Sie?

Tausende natürlich. Ich würde gerne noch einmal völlig von vorne beginnen, mit etwas völlig anderem und da auch erfolgreich sein. Ich hätte gerne, dass Menschen, die mich heute nicht so mögen, sagen, ist ja eh ein netter Kerl. Es gibt Bücher, die ich noch nicht gelesen habe. Es gibt Filme, Länder, Städte, Menschen, usw., die mich noch interessieren. Das ist ja leider das Tragische, das man als jemand, der darauf bedacht ist, sein Leben mit möglichst viel Inhalt zu füllen, angesichts der
gebotenen Vielfalt, irgendwie verzweifeln muss.

Im Hospizbereich hat man das Gefühl, dass bei Menschen, die über die Endlichkeit nachdenken oder sich selbst in der letzten Lebensphase befinden, sehr Wesentliches hervorkommt: Die Rollen fallen weg, die Masken fallen ab. Haben Sie in Ihrem Leben das Gefühl, mit Rollen, Masken konfrontiert zu sein?

Wer wir sind, wissen wir immer erst in unseren extremsten Lebenssituationen. Meine Mutter hat die Maske oder besser gesagt den Wesenszug der schieren, völlig selbstlosen Mütterlichkeit in dem Augenblick abgelegt, wo sie das Gefühl gehabt hat, die Kinder lassen los. Auf einmal konnte sie sie selbst sein. Der Augenblick als sie gesagt hat: „Es reicht, nicht noch eine Chemo. Ich gehe nicht mehr nach Hause nach Salzburg, sondern in ein Hospiz.” Sie ruft mich an und sagt: „Ich will jetzt bald gehen.” Wir haben noch gescherzt, denn meine Mutter hatte einen sehr schwarzen Humor. Ich habe noch gesagt „Mutti, das kostet 150 Euro am Tag, je früher, desto besser.“ Wir haben beide schallend gelacht. Es war wirklich lustig, aber zwei Tage später ist sie gestorben.

Können Sie Trauer in einer für Sie passenden Form Ausdruck verleihen?

Ich bin niemand, der weint, weil jemand stirbt. Ich neige nun mal nicht dazu, mich selber zu bemitleiden. Diesen Charakterzug habe ich nie gehabt und habe ihn mir nie oder nur selten durchgehen lassen.
Ich trauere tief, wenn ich sehe, dass jemand leidet. Wenn ich sehe, wie nah der Tod meiner Mutter meinen Geschwistern geht, dann ist es etwas, das mich zutiefst traurig macht. Aber der Tod meiner Mutter  nach einem langen erfüllten Leben – wo sie dann selbst am Schluss, in ihren letzten Gesprächen, gesagt hat: „Ich bin so stolz auf alles, was war, und froh und dankbar, und ich will jetzt einfach nur gehen.” Da denke ich mir „alles klar”, besser geht es ja kaum.

Vermissen Sie manchmal Ihre Mutter?


Ich hab nie das Gefühl gehabt, dass sie „weg” ist. Manchmal steige ich ins Auto und denke mir, Mutti anrufen. Ich bin auch jahrelang, nach dem Tod meiner Großmutter an ihrem Haus vorbeigefahren und habe gedacht, die Oma noch kurz besuchen, bis mir eingefallen ist, die ist am Friedhof. Das Begräbnis meiner Mutter war ein Fest. Mit bunten Gewändern, einer Dixieband auf Booten auf der Donau. Mit einem Familienessen, alle mit buntem Gewand. Es war ein heißer Sommertag in kurzen Hosen und T-Shirts. Meine Mutter hat zu Lebzeiten gesagt, es ist alles erlaubt, außer schwarzes Gewand. Wir wiederholen dieses Fest jährlich, ihr zu Ehren in der Wachau. Wir haben gesagt, wir wollen niemals
ihres Todes gedenken, sondern immer ihres Lebens, und das ist ein großer Trost.

Ein Interview von Edda Kaufmann

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