„Aufleben – trotz Demenz“

Die Unterstützung und Begleitung für Betroffene und ihren Angehörigen ist uns eine Herzensangelegenheit. Wie der theoretische Hintergrund und die praktische Herangehensweise des Umgangs mit der Erkrankung in einem Pflegewohnhaus aussehen kann, beschreibt Ihnen unsere Demenzexpertin Eva-Maria Sachs-Ortner im folgenden Fachbeitrag.

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Altersstruktur der österreichischen Bevölkerung verändert. Derzeit beträgt der Anteil der über 65-Jährigen 18,5%, dieser wird sich voraussichtlich bis zum Jahr 2030 auf 22,8% erhöhen (Wancata, 2014, S. 19). Aktuellen Schätzungen zufolge leben in Österreich 115.000 bis 130.000 Menschen mit einer Form der Demenz. Aufgrund des kontinuierlichen Altersanstiegs in der Bevölkerung wird sich der Anteil der an Demenz erkrankten Personen bis zum Jahr 2050 verdoppeln.

Demenzerkrankungen sind schon heute in Österreich mit 43,2% der häufigste Grund für eine Einweisung in ein Pflegewohnhaus. Im Wesentlichen sind es die herausfordernden Verhaltensweisen, die mehrfach im Rahmen einer dementiellen Erkrankung auftreten, wie beispielsweise Unruhezustände, aggressives Verhalten oder psychotische Symptome, die als Gründe für eine Übersiedelung in ein Pflegewohnhaus angegeben werden (Weyerer, Schäufele & Hendlmeier, 2005, S. 11). Die Auseinandersetzung mit professionellen, den besonderen Bedürfnissen von Menschen mit Demenz angepassten Pflege- und Betreuungskonzepten ist daher unumgänglich geworden.

Der Frage, ob nun Menschen mit Demenz mit nicht-demenzerkrankten Menschen zusammen (integrativer Ansatz), oder voneinander getrennt (segregativer Ansatz), betreut werden sollen, wird in Fachkreisen immer wieder gerne nachgegangen. Ein wesentlicher Grund, der für ein segregatives Modell spricht, ist, dass Menschen mit Demenz besondere psychosoziale Bedürfnisse haben, die eine, von nicht an Demenz erkrankten Personen getrennte, spezielle Versorgung notwendig macht (Weyerer et al., 2005).

Aus diesem Bewusstsein heraus wurde in unserem Pflegewohnhaus „Haus Elisabeth“ in St. Andrä eine herkömmliche Pflegestation in eine Demenzstation umzugestalten. Es wurde versucht, ein Umfeld zu schaffen, welches den Menschen mit Demenz trotz Einschränkungen, ein menschenwürdiges, der persönlichen Lebensgeschichte angepasstes Leben ermöglicht. Als Richtlinie dient hierbei die Beachtung mehrerer Säulen, drei davon beleuchtet wir hier

1. Normalitätsprinzip

Unter Normalität wird biografisch orientierte Individualität verstanden. Normal ist das, was ein Mensch im Laufe seiner Lebensgeschichte als normal kennengelernt hat (vgl. Böhm, 1999). Beispiel: Ich beobachte eine Dame im Alter von 90 Jahren, wie sie mit Eifer ihre Kittelschürze mit verschiedenen kleinen Stoffteilen ergänzt. Als ich sie darauf anspreche, erzählt sie in lebhaften Farben über ihre Tätigkeit als Schneiderin. Geschehnisse aus dem vorigen Jahrhundert (sie übte damals diesen Beruf aus) sind so lebendig, als wäre sie in diese Zeit zurückversetzt. Als ich mich wenig später erkundige, was es heute zum Mittagessen gegeben hat, kommt sie jedoch ins Stocken: „Mittagessen? Ich kann mich nicht erinnern."

Was bedeutet diese Erkenntnis für die Umsetzung auf der Demenzstation:

Starre Abläufe im Heimbetrieb, welche im Laufe der Jahre aufgestellt wurden, müssen durchbrochen werden. Ein geregelter Tagesablauf, der den lebenslangen Gewohnheiten und Eigenarten der Bewohner*innen entspricht, wird Schritt für Schritt eingeführt. Es wird versucht, alles so „normal“, als möglich ablaufen zu lassen: „Der*Die Bewohner*in soll im Heim zumindest in Ansätzen so weiterleben können, wie er*sie bis gestern gelebt hat“.

Diese Philosophie bedeutet, dass die vollständige Übernahme durch die Pflege in den Hintergrund tritt und dadurch die sogenannte direkte Pflege nicht mehr den hohen Stellenwert im Tagesablauf einnimmt. Im Mittelpunkt stehen die psychosozialen Bedürfnisse der Bewohner*innen, die herkömmliche, körperliche Pflege ist zweitrangig: „Weniger Körperpflege, mehr Seelenpflege!“

2. Biografiearbeit

Biografisch zu arbeiten, bedeutet, gegenüber einer Fülle von Erinnerungen, Erlebnissen, Prägungen und Lebenserfahrungen aufmerksam zu sein. Mit Biografie ist jedoch nicht der herkömmliche Lebenslauf gemeint, sondern vielmehr interessieren uns die einzelnen „Gschichtln“ der Bewohner*innen und deren dazugehörigen Emotionen (Gefühlsbiografie).

„Wer eine Geschichte zu erzählen hat, ist ebenso wenig einsam, wie der, der einer Geschichte zuhört. Und solange es irgendjemand gibt, der Geschichten hören will, hat es Sinn zu leben“ (Wiedemann, 2002)

Praktische Umsetzung auf der Demenzstation:

Die jeweilige Bezugspflegeperson erhebt in den ersten vier Wochen nach Einzug auf die Demenzstation im Rahmen von Einzelgesprächen die individuelle Lebensgeschichte des*der Betreffenden. Hierzu werden im Dialog Gespräche über das Zuhause, über die Familie, das soziale Umfeld, das Leben der damaligen Zeit, den Beruf und über materielle und ideelle Werte geführt. Biografiearbeit macht jedoch nur Sinn, wenn sie sich in der Pflegeplanung widerspiegelt.

Beispiel: Herr A. leidet an einem fortgeschrittenen Stadium der Demenz. Aufgrund einer ausgeprägten Merkfähigkeitsstörung kann er sich neue Informationen nicht mehr merken, das zeigte sich bei Heimeintritt, indem er im 5-Minuten-Takt fragte, wo er hier sei, was man denn von ihm wolle. Er war den ganzen Tag körperlich getrieben, konnte nicht ruhig sitzen bleiben und wollte immer wieder nach Hause gehen. Engmaschige mündliche Informationen und Orientierung zum Ort blieben ohne Erfolg.

Aus der Biografie war bekannt, dass Herr A. bis zur Pensionierung bei der Post gearbeitet hat. Er trat dort vor vielen Jahren eine Stelle als Briefträger an und arbeitete sich im Laufe der Zeit bis zum Postdirektor hinauf. Über sein Berufsleben konnte er nichts mehr erzählen, jedoch viel auf, dass er auf die Anrede „Postdirektor“ positiv reagierte. Am nächsten Tag wurden seine immer wiederkehrenden Fragen gemeinsam mit ihm auf einen Bogen Briefpapier geschrieben, nochmals zusammen durchgelesen und danach in einen an Herrn A. adressierten Briefumschlag gesteckt. Herr A. steckte den Brief in die Innentasche seines Sakkos und immer, wenn er Details aus dem Brief ansprach, wurde er auf den Umschlag in seinem Sakko hingewiesen. Herr A. nahm den Umschlag heraus und las laut die Informationen vor. Danach faltete er den Brief und steckte ihn wieder ein. Dies wiederholte er anfangs in kurzen Abständen, welche mit der Zeit immer größer wurden.

3. Milieugestaltung

Mit der Milieugestaltung, gemeint ist damit die Gestaltung des sozialen Umfeldes, wird versucht, Menschen mit Demenz Sicherheit und Selbstwertgefühl zu vermitteln. 

Neben einer angemessenen Gestaltung der Umgebung besteht die Notwendigkeit, einen geregelten Tagesablauf anzubieten, Hektik und Unruhe zu vermeiden sowie Orientierung und Sicherheit durch viele bedeutsame Hinweise zu fördern. Zudem ist eine verlässliche, einfühlsame Beziehung zwischen Bezugspflegeperson und BewohnerIn wichtig. „Dort, wo ein Mensch sich wertgeschätzt und mit all seinen Eigenheiten angenommen fühlt, dort wird er sich auch daheim fühlen“.

Was bedeutet diese Erkenntnis für die praktische Umsetzung?

Neben den eigenen Möbelstücken und Gebrauchsgegenständen mit persönlicher Bedeutung für die Person mit Demenz wurde die Station so gestaltet, dass für jede Gesellschaftsschicht (Arbeiter- Bauern- Bürgerschicht) zumindest im Ansatz das entsprechende Milieu vorhanden ist.

Die meisten in unserem Pflegewohnhaus "Haus Elisabeth" lebenden Bewohner*innen sind der Arbeiter- und Bauernschicht zuzuordnen. Kleine Accessoires wie Häkeldecken, Kissen, Topfblumen, Bilder, altbekanntes Geschirr bis hin zu Kredenzen, werden bewusst eingesetzt, um zum „Aktivsein“ einzuladen. Eine Möglichkeit ist, neben den alltäglichen hauswirtschaftlichen Tätigkeiten in der Küche, auch einen Besuch gebührend zu empfangen und zu bewirten. In dieser Situation kann die ehemalige Hausfrau „Kredenzchefin“ sein.

Um das „Zurechtfinden“ auf der Station zu erleichtern, wurde diese mit Hinweisschildern ausgestattet. Der Einsatz von Gerüchen im Alltag unterstützt in der zeitlichen Orientierung, wie z. B. durch jahreszeitliche Blumen auf den Tischen, wie Sommerflieder (keine immergrünen Pflanzen). Oder aber der täglich frisch aufgestellte Kaffee in der gemütlichen Wohnküche, welcher an die Frühstückszeit erinnert. Gewohnte Speisen und Getränke zur richtigen Zeit unterstützen das Zeitgefühl enorm.

Ein Beitrag von unserer Demenzexpertin

Mit diesem Beitrag hat unsere Demenzexpertin versucht, einen Einblick in einen Teil der einzelnen Schritte der Umsetzung des Konzeptes Demenzstation zu geben. Natürlich beinhaltet dieses Projekt weit mehr, als die hier beschriebenen Eckpfeiler.

Abschließend möchte Eva Sachs-Ortner noch betonen, dass es hierbei vor allem eines sehr engagierten Teams mit großer Bereitschaft zum Experimentieren bedarf. Ein Team, welches diskret in den Hintergrund tritt und sich mit geschärfter Wahrnehmung und Sensibilität dort einbringt, wo es tatsächlich notwendig erscheint. Ganz nach dem Motto: „Oft ist weniger mehr!“

Was können wir für Sie tun?

  • Beratung und Information für betroffene Angehörige (telefonische und persönliche Beratung im häuslichen Umfeld)
  • Demenz-Stammtische (Austausch und Information)
  • Vorträge, Informationsveranstaltungen in den Regionen
  • Vital-und Gedächtnistraining
  • Schulungen und Fortbildung für Berufsgruppen und Vereine

Haben Sie Fragen? Kontaktieren Sie uns!

Eva-Maria Sachs-Ortner MSc

Fachstelle mobile Demenzberatung

Hubertusstraße 5a

9020 Klagenfurt