Caritas-Mitarbeiter Tarnde Nam Gyal Tsang und Hermann Kutschera mit zwei seiner drei Söhnen Roland (links) und Günter.

Ein bewegtes Leben für die Berge

Im Caritas-Seniorenwohnhaus Karl Borromäus in Linz begegnen sich zwei Menschen, die auf den ersten Blick aus völlig verschiedenen Welten stammen: Hermann Kutschera, fast 95, und Tarnde Nam Gyal Tsang (34). Doch ihre Lebenswege weisen überraschende Parallelen auf – Flucht, das Leben in den Bergen und ein neuer Anfang in Linz. Was sie auf besondere Weise verbindet, ist ihre tiefe Liebe zu den Bergen.

Hermann Kutschera erblickte am 12. Juni 1930 in Warnsdorf in Nordböhmen das Licht der Welt. Gemeinsam mit zwei Geschwistern wuchs er in einem großen Haus auf. Der Vater diente im 1. Weltkrieg dem damaligen Kaiserreich als Soldat. Ältere Vorfahren lebten auch in Österreich und so erhielt die Familie Kutschera die Österreichische Staatsbürgerschaft. Die Mutter war Klavierlehrerin. Sport begeisterte den jungen Hermann von Kindesbeinen an. Die Familie erlebte die Anfeindungen von der tschechischen Bevölkerung als Sudetendeutsche, später die Besatzung durch Deutschland während des 2. Weltkrieges. „Warnsdorf lag an der deutschen Grenze“, erzählt der fast 95 Jährige, der seit einigen Monaten im Caritas-Seniorenwohnhaus Karl Borromäus in Linz wohnt. „Warnsdorf war zum Glück eine Textil- und keine Industriestadt, weshalb unsere Heimatstadt nicht bombardiert wurde. Die Bombenverbände flogen aber über uns drüber – zuerst Richtung Dresden. Nach dem Bombenabwurf kamen sie wieder zurück.“

Vertreibung nach Österreich

Noch in Warnsdorf begann er mit der Bäckerlehre. „Nach dem Krieg wurden wir Sudetendeutschen „raptriiert“, wie es damals hieß“, erinnert sich Hermann Kutschera. „Man kann auch sagen: ausgesiedelt, vertrieben. Wir als österreichische Staatsbürger hatten es noch besser erwischt. Wir konnten unser Hab und Gut soweit es ging mitnehmen und wurden mit einem Güterzug nach Wien verbracht. Deutsche durften nur einen Koffer mitnehmen und mussten zu Fuß aufbrechen.“ Kurz war die gesamte Großfamilie in Wien stationiert, danach kam die Familie Kutschera nach Linz in ein Barackenlager. „Hier war es kalt, besonders im Winter. Andere Familien mussten durch unsere „Wohnung“ gehen, um in ihren Bereich zu gelangen. Notdürftig haben wir mit Tüchern und Schränken Raumecken abgetrennt. Bad und WC gab es natürlich nicht im Wohnraum“, erzählt Hermann Kutschera. „Besonders für meine Eltern war es schwierig, sich mit dieser schlimmen Situation abzufinden. Meine Mutter hatte doch ihr halbes Leben - 45 Jahre - in Südböhmen verbracht, in einem schönen Haus. Der Vater war – heute würde man sagen – Fremdsprachenkorrespondent. Sich in das neue Leben einzufinden, fiel entsprechend schwer.“

Die richtige Berufswahl während der Hungersnot

Hermann Kutschera fand als Bäckerlehrling rasch eine Stelle. Damals war es üblich, in einem Raum der Bäckersleute zu wohnen. Da war es zumindest relativ warm, zu Essen hatte er (jedenfalls an Brot) immer genug. Er konnte auch seiner Familie immer mal wieder Brot bringen. Das war sehr wertvoll, wo es damals nur Lebensmittelmarken gab, die man einlösen konnte, sofern es überhaupt Essbares gab. Die Hungersnot war damals groß. In der Bäckerei wurde mit Mehl gearbeitet, das heute niemals als Lebensmittel freigegeben würde.

Die Kraft der Berge

Sport und Berge hatten immer schone eine große Bedeutung für Hermann Kutschera. So verbrachte er fast jeden freien Tag in den Bergen, zu jeder Jahreszeit, und bei allen Wetterverhältnissen. Besonders oft war er in Hinterstoder. Die Anreise war natürlich schwierig. Das verlässlichste Transportmittel war der Zug. Busse hatten oftmals unglaubliche Verspätungen, weil es ständig Reifenpatschen gab. Die Arbeitszeit eines Bäckerlehrlings war nachts bis mittags – und so kam es nicht selten vor, dass Hermann Kuschera nach der Schicht sofort in die Berge fuhr, kilometerweit zu Fuß bis zu den Einstiegen ging. Das Prielschutzhaus war oftmals das Ziel für die Übernachtung, wo er häufig völlig durchnässt und spät abends eintraf. Geschlafen wurde auf dem Boden oder auf den Bänken der Gaststube, wenn das Matratzenlager voll war. Am nächsten Tag wurde ein Gipfel bestiegen, und dann machte er sich auf den langen Weg hinaus aus dem Stodertal bis zum Zug. Wenn er nach Mitternacht in Linz ankam, fuhr keine Straßenbahn mehr. Dann ging er zu Fuß weiter nach Ebelsberg, und um 2 Uhr begann die nächste Schicht in der Bäckerei.

Diese Strapazen nahm er gerne in Kauf. Die Berge hatten es ihm einfach angetan. Im Winter ging er mit den Skiern los. Lifte und Gondeln gab es damals nicht. Die Abfahrt im Tiefschnee lohnte im Anschluss für die Mühen des Aufstiegs. Wobei bei den Skiern oftmals die Spitzen abbrachen und mit Reservespitzen repariert werden mussten.

Auf unsere Kameradschaft konnten wir uns verlassen

Bei seinen Bergtouren lernte Hermann Kutschera viele Kameraden und Freunde kennen. Er trat dem Alpenverein bei, konnte an organisierten Ausflügen und Reisen teilnehmen, die bis Sizilien reichten. Bei den Bergtouren wurde die Verpflegung selbst mitgenommen, da es unterwegs und auf den Hütten kaum etwas zu essen gab. „Bei den Kameraden war ich als Bäckerlehrling recht beliebt“, sagt Hermann Kutschera augenzwinkernd. „Das war auch das Gute an diesem Beruf, den ich eigentlich nie erlernen wollte. Später habe ich deshalb in die Stahlindustrie gewechselt. Ich habe hier als Arbeiter begonnen und später die Facharbeiterprüfung abgelegt. Bis zu meiner Pensionierung 1987 war ich dann im Angestelltenverhältnis beschäftigt.“

Auch bei der gesamten Ausrüstung für die Bergtouren, der Wohnungs- und Arbeitssuche waren die Bergkameraden wesentliche Stützen. Seine spätere Frau Hermine lernte Hermann Kutschera ebenfalls beim Alpenverein kennen. Gemeinsam machten sie viele Berg-, Kletter- und Schitouren. Nachdem mit Gerhard der erste der drei Söhne zur Welt kam, nahm Hermine allerdings an keinen Klettertouren mehr teil. Dies war ihr zu gefährlich. Denn auch Glück gehört in den Bergen dazu.

Lawinen, Stürze und Verletzungen

Hermann Kutschera, der auch an Schibewerben teilnahm und oftmals die vorderen Plätze belegte, hatte mehrmals großes Glück: er überlebte Stürze, die u.a. in Gletscherspalten endeten, Lawinenabgänge, die entweder knapp an ihm vorbeigingen, oder woraus er nach dem Verschütten gerettet werden konnte. Zahlreiche Verletzungen und Blessuren konnten ihn von seiner Leidenschaft nicht abbringen. Festgehalten hat er alle Erlebnisse in neun Tourenbüchern, in denen er in fein säuberlicher Handschrift mit Fotos und Postkarten seine vielen Erlebnisse festhielt. Besonders in Erinnerung ist ein Unfall einer Bergkameradin, die sich kurz nach dem Gipfel den Knöchel gebrochen hatte. Ein Kamerad trug die Kameradin, Hermann Kutschera trug die schweren Rücksäcke. So gelangten sie nach Stunden zur Berghütte, wo allerdings schon weitere Verletzte auf den Abtransport warteten. So musste die Verletzte noch zwei Tage ausharren, bis sie an der Reihe war, um von den Rettungsträgern ins Tal und von dort mit dem Bus ins Spital gebracht wurde. „Es waren andere Zeiten. Die Jungen können sich das heute nicht vorstellen, welche Verhältnisse wir damals hatten und wie gut es ihnen heute geht“, sagt Hermann Kutschera. „Wir lebten in bescheidenen Verhältnissen, hatten wenig Materielles. Aber auf unsere Kameradschaft und unseren Zusammenhalt konnten wir uns verlassen.“ Dass Hermann Kutschera auch Bergretter wurde, war für ihn selbstverständlich.

Die Familie Kutschera

Hermann und Hermine Kutschera erlebten glückliche Jahre. Ihre Leidenschaft für die Berge haben sie ihren drei Söhnen Gerhard, Günter und Roland mitgegeben. Hermann Kutschera war aktiv im Alpenverein, hatte viele Funktionen, u.a. als Vorsitzender. Er organisierte viele Touren und Urlaubswochen. Die Alpen kennt er wie seine Westentasche.

Auch wenn mit zunehmendem Alter die Beweglichkeit nachließ und er selbst nicht mehr auf die Berge steigen konnte, die Leidenschaft für die Berge blieb. Ein Jahr, bevor er ins Seniorenwohnhaus Karl Borromäus, einzog, starb seine geliebte Frau. Große Freude bereitet es ihm heute noch, mit seinen Söhnen, 7 Enkel und 5 Urenkel die Fotos aus früheren Jahren zu betrachten und mit denen von aktuellen Bergtouren seiner Söhne zu vergleichen. „Der Klimawandel ist unübersehbar“, sagt er. „Wenn man die Gletscher auf den Fotos aus den späten 40iger Jahren mit denen von heute vergleicht, da kann man den Klimawandelt nicht abstreiten.“.

Sein Buch „Eine Lebensgeschichte – spannend war es immer.“

Auch mit Caritas-Mitarbeiter Tarnde Nam Gyal Tsang spricht er oft über die Berge. Im Dezember 2024 wurden all seine Berichte aus den neun Tourenbüchern in ein gedrucktes 315 Seiten umfassendes Buch übertragen mit dem Titel „Eine Lebensgeschichte – spannend war es immer“. „Ich habe in seinem Buch lesen dürfen“, erzählt der Fach-Sozialbetreuer. „Ich interessiere mich ebenfalls sehr für die Berge, weil ich als Nomade in den Bergen in Tibet aufgewachsen bin. Da haben wir uns viel zu erzählen.“ Der 34 Jährige arbeitet seit 2019 im Caritas Seniorenwohnhaus Karl Borromäus. In Tibet hat er seine Großeltern betreut. Die Arbeit mit älteren Menschen gefiel ihm schon immer, weshalb er nach seiner Flucht aus Tibet intensiv Deutsch lernte, um die Fach-Sozialbetreuerausbildung zu machen. „Herr Kutschera ist ein sehr interessanter Mensch. Er hat vieles im Leben geschafft und gemacht. Er ist ein gutes Vorbild für mich. Ich schätze an ihm auch, dass er so ein dankbarer Mensch geblieben ist.“